Eine Mehrheit der Bevölkerung will die Weitergabe von Schweizer Kriegsmaterial an die Ukraine erleichtern. Die Politik sucht einen Weg aus dem Neutralitäts-Dilemma.
Bald ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion steht die Schweizer Bevölkerung nach wie vor mehrheitlich hinter der Ukraine. Selbst die Lieferung von Waffen ist kein Tabu, sofern sie durch Drittstaaten erfolgt. 55 Prozent der Bevölkerung sind in einer Umfrage der «NZZ am Sonntag» für eine Lockerung der entsprechenden Regeln im Kriegsmaterialgesetz.
Die Politik sucht nach einem gangbaren Weg. In der Sicherheitspolitischen Kommission (SIK) des Nationalrats wurden mehrere Vorschläge diskutiert. Am letzten Freitag präsentierte die ständerätliche Schwesterkommission eine eigene Lösung. Sie soll demokratisch regierten Ländern die Wiederausfuhr von Schweizer Waffen erleichtern.
Im Grundsatz bedeutet sie, dass diese Staaten nach einer «Sperrfrist» von fünf Jahren über aus der Schweiz bezogenes Kriegsmaterial verfügen und es weitergeben können, ohne in Bern eine Erlaubnis einholen zu müssen. Als Bedingung für diese Lockerung verlangt die Ständeratskommission, dass ein Zielland die Waffen einzig zur Selbstverteidigung einsetzt.
Die Regel soll auch für bereits gelieferte Rüstungsgüter gelten. Deutschland könnte die Munition für den Gepard-Flugabwehrpanzer an die Ukraine weitergeben, ebenso Dänemark die Schweizer Piranha-Radschützenpanzer. Aus Schweizer Sicht wäre zudem das Problem des Neutralitätsrechts gelöst, das die Gleichbehandlung von Kriegsparteien verlangt.
Wie sehr die Frage von Schweizer Waffen für die Ukraine die Politik umtreibt, zeigte sich am letzten Freitag in der «Arena». Neben dem Glarner Grünen-Ständerat Mathias Zopfi debattierten drei Vertreterinnen und Vertreter von Bundesratsparteien, die sich in der Waffenfrage exponiert hatten und in den eigenen Reihen auf teilweise heftigen Widerstand stiessen.
SVP
Die SVP propagiert ein striktes Neutralitätsverständnis. Umso überraschender war, dass der Berner Ständerat und SIK-Präsident Werner Salzmann sich letzte Woche für die Weitergabe von Waffen und Munition an die Ukraine aussprach. Dabei ging es ihm weniger um Hilfe für das angegriffene Land. Salzmann sorgt sich um die Schweizer Rüstungsindustrie.
In diesem Punkt ist er sich mit Christoph Blocher einig. Dennoch fuhr ihm der Partei-Doyen im SRF-Interview in die Parade, mit Verweis auf das Neutralitätsrecht. Mit einer Befristung oder Streichung des Wiederausfuhrverbots aber kann Blocher leben. «Dann könnten andere Staaten mit Schweizer Waffen machen, was sie wollen», sagte er dem «Blick».
SP
Die SP ist traditionell armeekritisch und pazifistisch gesinnt. Nach dem russischen Angriff kam es jedoch bei einzelnen Exponenten zu einem Umdenken, etwa bei der Solothurner Nationalrätin und Sicherheitspolitikerin Franziska Roth. Sie habe sich getäuscht, weil sie einen Angriffskrieg in Europa nicht für möglich gehalten hätte, sagte sie dem «Nebelspalter».
Abrüstung stelle «momentan keine Option mehr» dar, meinte Roth und wurde dafür parteiintern kritisiert. Inzwischen aber hat sich auch die SP bewegt. Sie will mit einer Motion die Weitergabe von Kriegsmaterial ermöglichen, wenn der UNO-Sicherheitsrat oder zwei Drittel der UNO-Generalversammlung einen Konflikt als völkerrechtswidrig einstufen.
FDP
Bei den Freisinnigen wird auf einem «Nebenschauplatz» gestritten. Die Aargauer Nationalrätin Maja Riniker schlug in der Kommission vor, dass die Schweiz einen Teil ihrer 96 in einer Ostschweizer Lagerhalle «eingemotteten» Leopard-2-Panzer an Länder verkauft, die Panzer an die Ukraine liefern. Infrage kämen etwa Polen oder Finnland.
Bei FDP-Präsident Thierry Burkart kam die Idee schlecht an. Rinikers Antrag sei nicht mit ihm abgesprochen gewesen, sagte er zu «CH Media». Ein Verkauf zum jetzigen Zeitpunkt wäre «ein Schnellschuss und würde die Armeeplanung massiv einschränken», kritisierte der Aargauer Ständerat. Der Vorstoss scheitert in der SIK mit 15 zu 10 Stimmen.
Andere Parteien haben weniger interne Differenzen, oder sie tragen sie nicht öffentlich aus. Dazu gehört die Mitte, deren Präsident Gerhard Pfister zu den eifrigsten Unterstützern der Ukraine in Bundesbern gehört. Auf ihr Betreiben beschloss die Nationalratskommission eine parlamentarische Initiative, die eine Weitergabe auf den Krieg in der Ukraine beschränkt.
Auf der anderen Seite stehen die Grünen, die gar keine Waffenlieferungen an die Ukraine ermöglichen wollen, ob direkt oder indirekt. In der Umfrage der «NZZ am Sonntag» allerdings wollen 45 Prozent der grünen Wählerschaft die Weitergabe ermöglichen. 24 Prozent sind «eher» dafür. Parteiexponentinnen kontern das Ergebnis mit Verweis auf die Neutralität.
Die Querelen zeigen einmal mehr, welche Herausforderungen der Ukraine-Krieg für die Schweizer Politik darstellt, die es sich lange in der Nestwärme der Neutralität bequem gemacht hat. Ein Ausweg aus diesem Dilemma erinnert gerade bei der schwierigen Frage der Weitergabe von Rüstungsmaterial an die Quadratur des Kreises.
Absehbar ist, dass die SP-Motion und die «Lex Ukraine» der Mitte im Parlament kaum Chancen haben werden. Zu gross sind die neutralitätsrechtlichen Bedenken. Gute Aussichten hat der neue Vorschlag der Ständeratskommission, auch wenn die Frage, ob die Regelung auch rückwirkend in Kraft gesetzt werden kann, juristisch abgeklärt werden muss.
Und selbst wenn dieser Weg begangen wird, muss die parlamentarische Initiative erst in eine Gesetzesrevision überführt werden. Im Prinzip könnte sie dringlich in Kraft treten. Andernfalls müssten die Referendumsfrist und eine mögliche Volksabstimmung abgewartet werden. Waffen und Munition für die Ukraine gäbe es wohl erst nächstes Jahr.