Über 15’000 Paare versuchen jährlich mit künstlicher Befruchtung ein Kind zu bekommen. Das zeigen neue Auswertungen. Brisant ist: Die Schweiz macht den Zugang zur Reproduktionsmedizin zur Geldfrage. Dagegen regt sich Widerstand.
Jedes zehnte Paar in der Schweiz will Kinder – und kriegt keine. Viele versuchen sich, ihren Kinderwunsch durch künstliche Befruchtung zu erfüllen. Aber wie viele? Bis anhin liess sich dies nur schätzen.
Nun liegen Blick zum ersten Mal Zahlen zu den sogenannten Inseminationen vor. Die Methode ist in der Schweiz die am weitesten verbreitete Art der künstlichen Befruchtung, bei der sich die Frau einer Hormontherapie unterzieht und ihr kurz vor dem Eisprung das Spermienkonzentrats des Mannes mit einem Katheter in den Uterus eingeleitet wird.
2021 führten Reproduktionsmediziner diese Behandlung 9934 Mal durch. Das sind 15 Prozent mehr als fünf Jahre zuvor – und zeigt, dass die Nachfrage nach dem Verfahren steigt. Die Auswertung stammt vom Krankenkassenverband Santésuisse. Drei Behandlungszyklen werden während eines Jahres von der Krankassen gedeckt.
Bisher herrschte ein unvollständiges Bild zur künstlichen Befruchtung in der Schweiz. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) sammelte und publizierte nur Zahlen zu In-vitro-Fertilisationen (IVF), bei der Labormediziner ausserhalb des Körpers weibliche Eizellen mit männlichen Spermien befruchten. 2020 waren 6237 Frauen in einer solchen Behandlung. Bei dieser Methode sind die Chancen auf ein Kind grösser – ein Behandlungszyklus kostet aber 8000 Franken und muss von den Betroffenen bezahlt werden.
Und das ist ein Problem, sagt Véronique Cottin (54), Leiter Kinderwunsch-Abteilung, beim Medizinallabor Viollier, das in der ganzen Schweiz tätig ist: «Viele Paare, die mit einer IVF-Behandlung effizient behandelt werden könnten, können es sich nicht leisten und probieren deshalb erst eine Insemination, obwohl diese in ihrer Situation kaum Chancen hat.» Die Zeit ist beim Kinderkriegen ein wichtiger Faktor, denn ab dem 35. Lebensjahr nimmt die Qualität der weiblichen Eizellen rapide ab.
Das Thema Fruchtbarkeit gewinnt derzeit an politischer Dringlichkeit, denn die Geburtenraten sinken weltweit – auch in der Schweiz. Gegen zehn Prozent weniger Babys kamen 2022 gegenüber dem Vorjahr hier auf die Welt. Experten erklären diesen massiven Rückgang auch mit einer aussergewöhnlich hohen Zahl von Neugeburten im Corona-Jahr 2021. Für Fruchtbarkeitsspezialisten ist allerdings klar, dass die weltweit sinkenden Geburtenraten auch etwas mit der sinkenden Spermienqualität zu tun hat, für die es bis anhin keine abschliessende Erklärung gibt.
Klar ist: In der Schweiz wird Kinderkriegen immer mehr auch zur Geldfrage. Die Schweizerische Gesellschaft für Reproduktionsmedizin will das ändern, wie die «SonntagsZeitung» im vergangenen Jahr berichtete. Sie hat beim BAG beantragt, dass IVF-Behandlungen künftig von der Krankenkasse bezahlt werden, wie in fast allen Ländern der EU. Der Entscheid steht noch aus.